Autorin auf Fähre vor Kap Dukato (Lefkas/Griechenland)

 

Greta

Godberg

 

 

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Revolutionsbild: Khomeini/Allah-o-Akbar

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-- Textauszüge --

Wachsen wie Gras über Nacht

Sultan und Saladin

Mundaka

 

Keines Menschen Seele

(6 Erzählungen)

 

1. Erzählung (Ausschnitt)

 

Keines Menschen Seele

David, Sohn deutscher Eltern, ist im Iran geboren und hat bis zur Iranischen Revolution dort gelebt. Mit der Familie nach Deutschland übergesiedelt, fühlt er sich fremd und betrachtet Teheran weiterhin als seine Heimatstadt, das von einem großen Garten umgebene Haus als sein Zuhause. Neun Jahre alt, ein wenig versponnen und allzu behütet aufgewachsen, fällt es ihm schwer, mit den hiesigen, im "freien täglichen Straßen- und Spielplatzkampf" erprobten Kindern zurechtzukommen. Seine Bewunderung gilt drei älteren, kraftmeierischen Jungen, bei denen er auf Ablehnung stößt. Eines Tages kommt es zwischen ihm und den Jungen zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Drei gegen einen: In einer abgelegenen Kiesgrube muss David sich zur Wehr setzen. – Umfang: 55 Seiten

 

In der Kiesgrube

... Jetzt kamen auch sie den Steilpfad zur Kiesgrube hinunter gefahren, hielten an, blieben aber auf ihren Rädern sitzen, einen Fuß auf der Erde, nein, nicht den Fuß, die Zehenspitzen, und Bossi gab die Befehle: Hinwerfen, und, da rüber, und, rühr dich nicht vom Fleck! Dann stiegen sie ab und stellten ihre Räder nebeneinander auf den Weg, abgeriegelt, Däv, klar? Und jetzt kamen sie auf ihn zu, und Auge in Auge mit ihnen, allen Dreien, und Auge in Auge am Ende mit Bossi, der ihm, musst es ja nicht glauben, ist ja vielleicht nur ein Scherz, eins überbraten, einen verpassen wollte, nur'n bisschen Kleinholz, verstehst du doch, oder? wich er zurück, ja, ist schon recht, bist doch schlau, kapierst schnell, weiter, weiter, in die Ecke, braves Hündchen … putziges Hündchen, putziger Davie, den kann man knuffen und an den Haaren ziehen, dem kann man in die Waden treten, die Hände verdrehen, dem kann man das Hemd aus der Hose zerren, am Reißverschluss der Jeans herumfummeln, den kann man sich gegenseitig zuwerfen, hier, fang ihn auf, schubs ihn zurück, ist doch nur ein Spiel, witzig, lustig. Oder findest du es nicht lustig, he? Zum lachen! … Wie du siehst, sind wir Spaßmacher! Los, sag: Ihr seid Spaßmacher!

Er sagte nichts. Er konnte gar nichts sagen. Er hätte es sich aus dem Kopf reißen müssen, dieses - fratzige Wort. Er wollte es nicht hören und er hörte es auch tatsächlich nicht mehr. Ausradiert war es, verschwunden! Denn in seinem Kopf, gegen den er die Hände drückte, die Fingerspitzen tief hinein, hinter seiner Stirn, da, wo er nach einer Antwort suchte und herumirrte wie in einem Labyrinth, irgendwo tief im Innern verborgen, musste doch das Gegenwort stecken, gab es keine Wörter mehr. Ein Korb voller Kieselsteine, Sandkörnchen, ausgeschüttet: alle! alles! hohl und leer, eine taube Nuss, Dave, ist dein Kopf, viel schlimmer, die taube Nuss das bist du selbst. Schon wie er daher ging, seit er vom Rad gestiegen war, so ging doch kein Mensch über festen Boden, ganz eingeknickt in den Knien, die Fußsohlen stumpfgerieben, dass er nicht mehr spürte, wohin er trat, und schließlich: los, mach zu, trödel nicht rum! Schritt für Schritt langsam wie auf einem Absturzseil, von Bossis Augen gelenkt, rückwärts, immer weiter zurück, eingeschüchtert, seit er begriffen hatte, dass Bossi sich rächen würde, ein für alle Male, hast du das geschnallt, Ratte, ist ja wohl nicht schwer zu verstehen, Laus! Er hörte die Worte und wusste, das alles passiert tatsächlich, und trotzdem kam ihm das Geschehen unwirklich vor, kinohaft. Da saß er in einem dunklen Raum und schaute sich einen Film an, und dann, wie aus heiterm Himmel, riss es ihn aus seinem Sessel heraus und hinein in den Film, und gegen seinen Willen, muss er in diesem Film eine Rolle übernehmen, nicht die Rolle des Helden, Superman, immer siegreich, nein, die des Verlierers: na, wird's bald, Mamis Bübchen ist doch wohl kein Spielverderber? Pass gut auf, Däv, kannst dir beim Verlieren zugucken. Wie recht Bossi hatte. Ganz langsam sah er sich am Boden der Grube dahingehen, sich und seinen Schatten über einen weiten Platz voller Steine und Geröll, lang war sein Schatten, fast so, als sei er plötzlich erwachsen, seinen Gegnern beinahe gleich - wenn er Bossis Schatten übersah. Aber er wusste auch ohne hinzuschauen, wie klein er in Wirklichkeit war, seine Fäuste waren keine Waffen, denn er, David, konnte sich nicht mit anderen Kindern schlagen, am allerwenigsten mit älteren (er sollte lernen, sich mit seinem Körper zu verteidigen, er sollte sogar lernen, anzugreifen! - Sollte, Ja! - Zum Judo haben wir ihn geschickt! - Judo und prügeln, angreifen, was glaubten die eigentlich, wie das mit Judo zusammenpasste, Judo, das war ein Spiel, ein Kampfspiel mit festgelegten Regeln!). Und wenn er auch Angst hatte, atemabpressende Angst, so dachte er doch im Zurückweichen - und dieses Denken, Wahrnehmen und Erkennen, das waren winzige, rasch eindringende Splitter in seinen Kopf, ja, sein Kopf lebte wieder, voll, bis zum überquellen voll, war er von all den Splitterteilchen - was ist diese Kiesgrube doch für ein hässlicher Ort mit ihren hohen Lehmwänden, von Baggern verschandelt und verstümmelt: jetzt schlagen wir die Zähne in den Boden, in die Wand, hm … mapf! Nicht zu vergleichen, mit den Geröllfeldern, die er kannte, den Felslandschaften, von denen er träumte. Da ragten Felsen in Gestalt großer Riesentiere, Menschenriesen auf, glichen Türmen und Bauwerken, schau mal, David, hatte seine Mutter einmal gesagt, eine Kathedrale, ein Dom! Nein, dieser Ort hatte keine Ähnlichkeit mit den Landschaften "drüben", nur der Himmel über ihm - er sah es, als er einen kurzen Blick von Bossi und seinen Kumpanen hinweg nach oben riskierte - schien der gleiche zu sein, unverändert blau, so vertraut, als sei nichts Bedrohliches geschehen, als befände er sich gar nicht am Boden der Grube, sondern 5000, 6000 Kilometer weit entfernt "zu Hause". So blank, ohne ein Fitzelbisschen von Wolken war dieser Himmel, dass ihm vor Sehnsucht und Kummer endlich die Tränen kamen: hier stehen zu müssen, allein und machtlos - die hatten ihn ja längst besiegt. Tränen vor denen - nie mehr! Hatte er sich das nicht vor kurzem erst geschworen? Es war ihm plötzlich egal. Denn mit den Tränen - kühl spürte er sie auf seinem Gesicht und unaufhörlich flossen sie - war er mit einem Mal aufgewacht, weggeblasen waren die letzten Reste von Taubheit in seinen Gliedern, auseinandergefetzt der Unwirklichkeitsschleier vor seinen Augen. Ganz hart, angespannt bis in die Fingerspitzen hinein, fühlte er seinen Körper werden, hart und angespannt vor Trotz. Er würde sich nicht von denen herumkommandieren lassen, auch nicht von Bossi. Und der kommandierte schon - und ob er wollte oder nicht, er musste es hören, dieses Clownswort: Los, sag es! Ihr seid Spaßmacher! - Nein! Den Kopf in den Nacken geworfen, verzog er keine Miene, sollten sie die Tränen doch sehen, sollten sie doch lachen, und sie lachten, sie krümmten sich, zogen Grimassen vor Lachen, nur Bossi blieb cool: guckt ihn euch an, wie niedlich, willst uns wohl weichklopfen, was? Mann, mir kommen die Tränen! - Was sie sich auch einfallen lassen würden, ihn zu quälen, sein Mund würde für dieses Wort verschlossen bleiben! Spaßmacher! Nein! Und wenn ihr mich totschlagt! Spaßmacher! Er biss sich auf die Lippen, biss so fest hinein, dass sie bluteten, und rasch, damit Bossi das Blut nicht sah, sog er es in den Mund. Zum letzten Mal: Spaßmacher!

NEIN! Es war ein Schrei, kein Schrei, der nach draußen dringt, ein Schrei nach innen, aber so lautstark, dass er glaubte, ihn wirklich zu hören. Und mit diesem Schrei, der nicht enden wollte, der sich in vielfachem Echo fortsetzte, ja, dazu waren die hässlichen Wände dieser Grube gerade noch gut genug, schlug etwas in ihn ein, scharf und körperauftrennend wie ein Messer - oder ein Blitz, viele Blitze, einen dunklen Himmel erhellen sie, Blitze wie Leuchtkugeln vor seinen Augen, hinter der Stirn. Und dann wusste er auf einmal, was sie waren, diese Gegner, diese Feinde, er hatte es "drüben" so oft gehört in Verbindung mit Pfauenthron und Revolution, und jetzt, da er es gefunden hatte, das Gegenwort, zugefallen war es ihm, er hatte die Suche ja längst aufgegeben, schrie er es hinaus, wieder und wieder, und jetzt hallte es tatsächlich von den Wänden der Kiesgrube zurück, und jetzt sah er sie sogar zusammenschrecken, Benny und Buddy, die beiden Untertanen, jedenfalls beim ersten Mal, was für ein lächerlicher Name, Buddy, Hundename, und Bossi, war der Name vielleicht besser? Bossi, Benny und Buddy - die hatte er zu Freunden haben wollen, weil er glaubte, sie seien Baumeister, Baumeister wie er selbst, ihm haushoch überlegen? Nein, jetzt wollte er sie nicht mehr. Jetzt schrie er sie nieder. Jetzt schleuderte er ihnen mit aller Kraft, und er war erstaunt, erstaunt und entsetzt zugleich, wie laut und durchdringend seine Stimme klang, das erinnerte Wort entgegen: Folterknechte! Zwischen all den schmerzenden Schlägen, die Bossi austeilte: Das ist meine Sache! Haltet euch da raus! Folterknechte! Fol…ter…knech…te! - Halb zu ihm hinabgebeugt, von oben herab schlug Bossi auf ihn ein, er musste seinen Kopf mit den Händen, mit den Armen schützen, musste ihn einrollen und abpolstern, er musste seinen Bauch schützen, die Magengrube, die Richtung der Schläge musste er erraten (und er riet falsch, viele Male falsch), musste sich ständig neu entscheiden zwischen Körper und Kopf. Und wenn der Abstand zwischen ihnen auch beträchtlich war, so sah er doch zwischen den Schlägen dann und wann Bossis Gesicht, rot und nass, Bäche von Schweiß liefen ihm über die Backen zum Kinn und weiter den Hals hinab, einmal kam ihm das Gesicht so nahe, dass er die kleinen Unebenheiten auf der Haut sehen konnte, winzige Löcher um die Nase herum, Krater und Pickel, hässliche Pickel auf der Stirn, hochgewölbt mit schwärzlichen Punkten in der Mitte, und die Augen sah er - und hätte sie lieber nicht gesehen, in sie hineinzublicken kostete Mut! Und die Schläfenadern, eine Ader, wie sie aufschwoll und blau heraustrat aus der Haut, wie es in ihr klopfte und zuckte, jeden Augenblick musste sie zerplatzen unter Bossis Wut - Eiskaltbossi blind vor Wut! Und er, David, achtlos, schrie gegen diese Wut an, wohl wissend, wie gefährlich das war, er kannte sich nämlich aus mit Wut, er wusste, was es hieß, von einem Wutanfall geschüttelt zu werden, dass die Wut heraus und ausgelassen werden musste, an Sachen zum Beispiel, bei ihm an Sachen. Aber er zweifelte nicht daran, dass man aus Wut auch töten könnte: Ich bring dich um, Ratte, ich bring dich um!

Aber so sprach Bossi nicht, so sprachen allein seine Hände. Er selbst sagte immerzu nur das eine: Spaßmacher! und dass er aufhören würde zu prügeln, sofort, wenn du, Däv, es wiederholst! Doch das glaubte er ihm nicht. Der konnte ja gar nicht aufhören, nicht bevor diese Wut sich totgelaufen hatte (wenn du dich ausgewütet hast, wenn deine Wut sich totgelaufen hat, dann können wir wieder miteinander sprechen, sagte seine Mutter!). Und ihm, Dave, ging es jetzt kein bisschen anders, auch er konnte nicht aufhören. Von Bossi in die Zange genommen, unter den Schlägen und unter den seltsam klatschenden Geräuschen, die aus der Mitte der Kiesgrube zu ihm drangen: Da treffen Steine, große und kleine, scharf geworfen auf Metall, Benny und Buddy, sie zertrümmerten ihm sein Rad! schrie er Bossi und gleichzeitig den beiden Steinewerfern, Feiglinge, alle beide, die waren ja nicht einmal wütend, ohne innezuhalten das Wort, sein Wort entgegen, selbst noch, als ihm unter einem Faustschlag mitten ins Gesicht, das Blut aus der Nase schoss: Folterknechte! Gegen jedes einzelne Spaßmacher: Folterknechte! Und obwohl alles so schnell ablief, dass er kaum zum Denken kam, obwohl ihn der Kopf schmerzte und nicht nur der Kopf, der ganze unter Boxhieben, Faustgriffen, Tritten haltlos hin und her pendelnde Körper, erinnerte er sich plötzlich wieder an das Revolutionsgeschrei von den Dächern der Häuser, "drüben", damals, vor zwei Jahren nach Einbruch der Dunkelheit: Allah-o-Akbar – Gott ist groß! Dieses Hexenkesselgeschrei, sagte seine Mutter, das er nicht hatte hören sollen, mit allerlei Tricks hatten sie ihn früher als sonst zum Schlafen gebracht, und das er doch gehört hatte, sogar aufgestanden und aufs Dach gestiegen war er einmal, durch das gänzlich verdunkelte Haus, um zu seinen Eltern zu kommen, die, halb im Schutz des Gewächshauses auf dem Flachdach standen, weil sie, so erklärten sie es ihm und Nina, Zeugen des großen Chaos, des Umsturzes werden wollten, das ist ein Kampf - und Kämpfe sind euch doch vertraut, nicht wahr - ein Machtkampf zwischen dem Kaiser hier im Land und einem neuen Propheten, und der Prophet wird der Sieger sein. Und als er die Tür zum Dach endlich geöffnet hatte, sie klemmte, ließ sich auf einmal überhaupt nicht mehr bewegen, und über die Schwelle treten wollte, war in nächster Nähe eine Schuss-Salve losgegangen, explodiert wie eine Silvesterrakete. In Licht getaucht, von Licht geblendet, stand er im Türrahmen, stumm, dass ihn eine Kugel getroffen hatte, glaubte er, bis seine Mutter ihn zu sich, in ihre Arme riss, fort aus der Tür, während das Licht der Suchscheinwerfer erlosch. Das war die Wahrheit: Schüsse und Einschläge und Lichtblitze auf dem Dach. Sie konnten ihm doch nicht immerzu aufs Neue erzählen, dass er all das nur geträumt haben sollte. Niemals sei er aufs Dach gekommen, niemals seien Scheinwerfer hinübergeglitten, niemals sei in unmittelbarer Nähe ein Schuss losgegangen, geschweige denn eine - Schusskaskade, ta-ta-ta-ta ... tapang! Jenseits des Gartens, auf der Straße, ja, da habe es Schüsse gegeben, da sind auch Militärautos mit Suchscheinwerfern hindurch gefahren, du hast geschlafen David, wir haben dich höchstens einmal für wenige Minuten allein gelassen. Aber die Schritte, überhastete Schritte auf dem Asphalt, und Schreie, Befehlsrufe: Stehenbleiben! und den Schuss, einen einzigen Schuss, der dem Stehenbleibensruf gefolgt war, und ein Fall, ein Wimmern und Stöhnen und Rennen, das Schlagen von Autotüren, das Aufheulen eines Motors und Bremsenquietschen, mit Volldampf musste der Jeep um die Ecke gebogen sein, das alles, diese furchterregenden Geräusche, die er danach noch monatelang in Angstträumen wiedergehört hatte, die bestätigten sie ihm. Spaßmacher! Nein! Was für ein Spaß sollte das wohl gewesen sein! ...

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