IranKachel

 

Greta

Godberg

 

 

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Kinderzeichnung: Glücklicher Löwe

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-- Textauszüge --

Keines Menschen Seele

Wachsen wie Gras über Nacht

Mundaka

 

Keines Menschen Seele

(6 Erzählungen)

 

3. Erzählung (Ausschnitt)

 

Sultan und Saladin

Durch eine lebensbedrohende, schließlich doch glücklich überstandene Krankheit an eine frühere ebenfalls schwere Krankheit erinnert, durchlebt der 14-jährige Gerald während der Rekonvaleszenz noch einmal die Kriegsmonate, die er - 5 Jahre alt - in enger Mutter-Kind-Beziehung in Österreich verbracht hat. Das Kindheitsidyll jenseits der Bombennächte findet mit der Einschulung des Jungen und der gleichzeitigen beruflich bedingten Trennung von der Mutter ein plötzliches Ende. Auf die lieblose Behandlung von Seiten der viel zu jungen, vorwiegend auf ihr eigenes Wohl bedachten Tante, reagiert Gerald mit Schulversagen, schließlich, dem Terror des abendlichen Alleinseins, dem Terror der "Buchstaben" zu entrinnen, mit Flucht in die Krankheit. – Der Titel der Erzählung bezieht sich auf die imaginierten Löwen Sultan und Saladin, die geheimen Beschützer und Spielkameraden des einsamen kleinen Jungen . – Umfang: 37 Seiten

 

Tante Fritzi

Ausgangspunkt: Gerald erinnert sich an die Zeit mit Tante Fritzi in G.

... Wenn Gerald versucht, sich die Stadt G. vorzustellen, dann blickt er auf ein großes leeres Blatt, auf dem schließlich in einer Ecke verschwommen ein Kirchturm erscheint, nein, zwei, Zwillingstürme, und daneben, ein wenig deutlicher, der Kirchhof, dort, auf einer Bank im Rosenhaag - seltsam, wo kommen ihm plötzlich die altertümlichen Wörter her? - hat er einmal mit der Mutter gesessen. Auf der anderen Seite des Blattes sieht er ein weißes Haus mit dunklen Fensterlöchern entstehen, wie ein Gerippe, denkt er. In diesem Haus hat er mit der Tante gewohnt, unterm Dach, eine schmale gewundene Treppe führte zum Oberstock hinauf, direkt auf ihr gemeinsames Zimmer zu, das Angstzimmer. Viele Abende hat er allein darin verbracht, das Bitten und Betteln: bleib doch hier, Tante Fritzi! hat nichts genützt, das Sichanklammern an ihre Hände, ihre Kleider, einen Gürtelzipfel hat er einmal, als sie sich schon zum Gehen fortgedreht hatte, zu fassen bekommen, und von dem Ruck ist eine Schlaufe am Kleid gerissen, die Tante hat den Gürtel abgenommen und ihn damit … nein, geschlagen hat sie ihn wohl nicht, er weiß es nicht mehr, doch was er auch tun und sagen mochte, sie war nicht umzustimmen. Es kommt ihm so vor, als habe in dem Dachzimmer nur sein Bett gestanden - ein Kinderbett, wo er doch schon jahrelang in Erwachsenenbetten geschlafen hatte. Gegenüber der Tür stand es, zum Greifen nah. Und diese Vorstellung war von allen Angstvorstellungen die grauenvollste: dass jemand kommen und ihn mit einem einzigen Handgriff packen und wegschleppen könnte, ohne dass er imstande gewesen wäre, einen Schrei auszustoßen, bei jedem Geräusch auf der Treppe, Knistern, Knarren, Knacken, hellhörig musste man sein, denn diese Geräusche überhörte man so leicht im ständigen Rauschen um ihn herum. Was für ein Rauschen? Der Fluss, ja, der Fluss! Sie wohnten am Ufer eines Flusses! Immerzu hat er auf die Tür gestarrt, mit Streichholzaugen: lieber Gott, lass sie nicht zufallen! Und weiter, weiter starrt er auf die Klinke, ob sie sich bewegt, und sie hat sich bewegt, einige Male, er hat es gesehen, das Herz in der Kehle ist ihm stehengeblieben, die Fäuste hat er in die Augenhöhlen gepresst, gleich werden die fremden Hände, Eiskalthände, sich ihm auf die Schultern legen, erst wenn er die Tante mit ihren Freundinnen zurückkehren hörte, singend: es dunkelt schon in der Heide! hat das Grauen, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ, ein Ende gehabt. -Wenn sie ging war es meistens noch hell. Er saß mit einem Bilderbuch, oder mit Zeichenblock und Buntstiften im Bett, ein Zugeständnis, sagte die Tante, aber nur bis es dunkel wird, Gerald, Lichtmachen ist verboten. Er nickte und war ganz hoffnungsvoll, manchmal jedenfalls. Vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden heute Abend. Was für ein Unsinn, zu glauben, jemand könnte in dieses helle, friedliche Zimmer eindringen. Wie war er bloß auf die Idee gekommen, das Zimmer selbst könnte ihm etwas anhaben, seinen Rachen aufreißen und ihn verschlingen, das gibt es doch überhaupt nicht, schwören würde seine Mutter darauf. Aber wenn nach einer Weile die Dämmerung hereinbrach und die Schatten, langsam aber stetig sich vertiefende Schatten, über die Wände zu kriechen begannen (über leere, nackte Schmuddelwände, komisch, wie kommt er eigentlich darauf?), schlug die Angst doch wieder über ihm zusammen. Er konnte es nur ertragen, weil seine Löwen bei ihm waren. Denn zu Sultan, den er mitgenommen hatte, war Saladin hinzugekommen, er wusste nicht wann, wahrscheinlich in diesem Zimmer. Hin und wieder, wenn er die Tante nach Hause kommen hörte, dachte er, gleich hetz ich die Löwen auf sie: Fass Sultan! Fass Saladin! Aber er vergaß es, sobald sie sich über ihn beugte, kurzatmig vom Treppensteigen, und, wie immer, wenn sie von diesen Unternehmungen, Tantentreffen, zurückkehrte auf eine merkwürdige Art und Weise erhitzt (er roch diese Hitze, beschreiben konnte er den Geruch nicht, sogar heute wäre er nicht dazu imstande, so seltsam erhitzt und verschwitzt ist seine Mutter nie gewesen). Kaum war sie da, Fritzi-Fratzi, wie er sie heimlich nannte - und das war kein Kosename, nicht im Traum hätte er daran gedacht, ihr einen Kosenamen zu geben - schlief er ein.

Ich glaube, sie ist jeden Abend weggegangen, hat er gestern zu seiner Mutter gesagt, jeden Abend! Kannst du dir das vorstellen? Sie muss ja richtig vergnügungssüchtig gewesen sein.

Sie war überfordert, Gerald, viel zu jung, ein achtzehnjähriges Mädchen (so alt würde er in vier Jahren sein). Und sie arbeitete ja auch noch im Kindergarten, das war doch gerade so günstig: dass du nach der Schule dorthin gehen konntest! Abends wollte sie halt ihren Spaß haben, das ist doch verständlich. Nein, nein, ich sag ja nicht, dass es gut gelaufen ist, ich hab die Sache falsch eingeschätzt, ich war überzeugt, es würde klappen mit euch beiden.

Natürlich, im Kindergarten hat sie gearbeitet, eine weiße Schürze hat sie getragen, manchmal auch zu Hause.

Ihre Freundinnen sind zu Besuch gekommen, er sitzt mit ihnen zusammen auf der Wiese vor dem Haus, sie reden durcheinander, Schnattergänse. Er hat ihr Kichern, Lachen, Flüstern, im Ohr und weiß, dass sie sich mehr und mehr in die Hitze hineinlachen, die er an der Tante am meisten hasst, dieses Zittern und Fliegen am ganzen Körper, mitten ins Gesicht möchte er ihr in solchen Augenblicken spucken. Er läuft ins Haus oder sonst irgendwohin, und als er zurückkehrt, sieht er die Tante hinüber zum Flussufer gehen, sie trägt einen Badeanzug und ruft: komm zum Baden, Gerald, zier dich nicht! Ihre Freundinnen sind schon im Wasser. Ich hab keine Badehose, ruft er zurück. Das macht nichts, erwidert die Tante, zieh dich einfach aus (wie? Pudelnackt?), hier sind wir völlig ungestört. Was denkt sie sich eigentlich, schließlich ist er kein Kleinkind mehr. Aber gegen seinen Willen steigt er doch ins Wasser, trödelig, die weiße Unterhose schlottert ihm um den Körper, da hilft nur eines, wie der Blitz untertauchen, obwohl er jetzt schon friert, was, bei der Hitze, sagt die Tante, das kannst du mir doch nicht erzählen. Er schwimmt ein paarmal zwischen ihr und ihren Freundinnen hin und her, er kann nämlich schwimmen, die nicht, keine von ihnen und verdrückt sich dann, so rasch er kann, bloß heraus, heraus aus dem Fluss, denn die Freundinnen, schemenhaft, ohne Körper, ohne Kopf, sind ihm unheimlich, weil sie mit ihren Händen - und diese Hände spürt er heute noch auf seinem Körper - nach ihm grabschen, ihn zu kitzeln versuchen, und der Fluss selbst ist ihm unheimlich, seit er einmal nach einem schweren Gewitter in Windesseile aufgeschwollen und über die Ufer getreten war, und als das Wasser sank, ist die Wiese noch tagelang quatschenass gewesen, bei Nacht hörte er es in den Pfützen rumoren, ein anschwellendes und abschwellendes Blubbern und Gluckern, immer wieder geträumt hat er davon. Nein, er traut diesem Wasser nicht, das heute so träge dahinfließt, so - sämig und dickflüssig, so schmatzend um die Sträucher am Ufer herum. Zieh dich um, ruft die Tante, sonst erkältest du dich, hab keine Angst, wir gucken dir schon nichts weg. Und er, abgewendet von ihnen, die lachen, auf seine Kosten lachen, er hat es damals gespürt und ist sich heute sicher, zieht die triefnasse Unterhose aus und die Lederhose, dieses verhasste neue Ungetüm, das auf der Haut scheuert, an, und nachdem er ein Stück Kuchen gegessen hat, am Kindertischchen, Katzentisch, ein wenig entfernt vom Kaffeetisch der Erwachsenen, erinnert die Tante ihn an die Hausaufgaben. Sie legt die Tafel vor ihn hin und drückt ihm einen Griffel in die rechte Hand; ganz steif, wie verkantet, ist sie mit einem Mal geworden. Du meine Güte, Gerald, sagt sie, deine Finger sind ja wie Stöcke. Sie nimmt einen zweiten Griffel und malt in jede Reihe einen Buchstaben: so, jetzt bist du dran!

Jetzt! Ja, jetzt weiß er, was die Stunde geschlagen hat!

Guck doch nicht so ernst, sagt die Tante, das bisschen Buchstabenmalen, wirst du doch wohl noch hinkriegen. - Vielleicht hat die Tante ja recht. Eigentlich sieht alles ganz einfach aus. Wieso sollte er, gerade er, die Buchstaben nicht schreiben können, schön und gerundet, geschwungen oder spitz, und, was ebenso wichtig ist, so abgezirkelt, dass sie genau in die Linien der Tafel passen? Warum denn nicht? Frisch gewagt ist halb gewonnen, sagt seine Mutter, und, am Geschick kann es, weiß Gott, nicht liegen, hat er die Schürzentanten zu Tante Fritzi sagen hören, dazu zeichnet das Kind zu gut, die Löwenbilder sind doch einzigartig. Also beginnt er zu schreiben, in großen Bögen, locker, Gerald, immer locker aus der Hand heraus, so ist es richtig. Er sagt jeden Buchstaben, den er schreibt, leise vor sich hin, und es klappt, es klappt gut; aber dann, er hat die Hälfte der Reihe schon fertig, werden die a-i-o-u-e 's kleiner und kleiner, und je weiter er zum Ende der Reihe kommt, desto unleserlicher und verkrüppelter sehen sie aus, das kommt daher, dass sein Handgelenk inzwischen gänzlich unbeweglich geworden ist, da mag er sich anstrengen wie er will, er kann den Griffel am Ende bloß noch auf der Stelle drehen oder über die Tafel hinweg kratzen lassen, wie das quietscht, da tun einem ja die Ohren weh, klagt die Tante, und wie weh ihm erst die Finger tun, am Mittelfinger, da, wo der Griffel aufliegt, ist eine tiefe Kuhle entstanden, dabei ist er noch lange nicht fertig, wenn die Tante nur nicht kommt und sagt, das sieht ja aus, als wäre ein Huhn drüber gelaufen, wir wischen es weg und du fängst von vorne an, wenn sie ihm nur nicht die Hand führen will, so fest, wie sie seine Finger drückt, wenn sie ihn nur nicht nach den Namen der Buchstaben fragt, denn er wirft sie wieder einmal alle durcheinander, wie kannst du bloß derartig vergesslich sein, sagt die Tante, wo wir doch so schöne Eselsbrücken gefunden haben, aber selbst die kann er nicht mehr voneinander unterscheiden, welcher Buchstabe ist dickbauchig, Gerald, und wie heißt der Girlandenbuchstabe, und das Osterei, das wirst du doch wohl noch wiedererkennen und die es und is, iii-Dötzchen, Pünktchen drauf, ich glaub, du bist ganz einfach trotzig, Gerald, nein, nein, Tante Fritzi, bestimmt nicht, wenn sie wüsste, wie ihm von all diesen Eselsbrücken der Kopf schwirrt, diesen Fliegern und Läufern, diesen Schleifen und Häkchenbuchstaben, den Spazierstöcken mit und ohne Knauf, denen, die sich anfassen, und denen, die alleine stehen, hinter seiner Stirn beginnt es zu klopfen, von seinem Nacken her zieht sich die Kopfhaut so schmerzhaft zusammen, dass er glaubt, sie ist zu eng, sie wird reißen, und das Schreiben und Wiedererkennen der Buchstaben ist ja längst nicht alles, man muss sie auch aneinanderreihen können, denn nur so, das hat er begriffen, das hat er sogar schon vor Beginn der Schule gewusst, entstehen ja die Wörter und aus den Wörtern die Sätze, er weiß gar nicht, wie er jemals einen ganzen Satz schreiben und lesen soll, er stottert, stottert die Wörter zusammen, und wenn er das geschafft hat, muss er sie wieder auseinandernehmen, buchstabieren, sagt die Tante, du lieber Gott, das hat sich deine Mutter auch nicht träumen lassen, dass du dich so schwer tust, dabei wolltest du ihr doch einen Brief schreiben, und wenn sie kommt, musst du ihr etwas vorlesen können, langsam und deutlich, Satz für Satz, komm, streng dich an. Da liegt die Tafel mit den roten Linien und mit der weißen, scheußlichen Krakelschrift vor ihm, und je länger er darauf starrt, desto heftiger verschwimmt ihm alles vor den Augen, du bist ja ganz blass, Gerald, ruft die Tante, du wirst dich doch nicht schon wieder übergeben, immer wenn es ans Schreiben geht, wird das Kind hysterisch, ich weiß auch nicht mehr, was ich tun soll. Gut, fangen wir noch mal von vorne an: Mutter ist in der Küche! Als erstes schreibst du Mutter, schön hintereinander, die Buchstaben müssen sich anfassen, wie Brücken, lauter kleine Brücken, wenn du zwischen ihnen eine Lücke lässt, krachen sie ein. Oh ja, das sieht er ganz deutlich vor sich, dass seine Buchstabenbrücken zusammenbrechen, so wie sie geschrieben sind, über die Linien, unter die Linien, das sind Berg-und-Tal-Brücken, auf dem Geländer balanciert er entlang und plötzlich, er hört das Krachen: pang, spratz! hohl in seinem Kopf, er fällt, fällt, das Fallen hört überhaupt nicht auf, bis die Tante ihn anstubst, und er sie sagen hört: also, der erste Buchstabe steht schon da, hm was kommt danach, eine Girlande, Gerald, ein u, jetzt haben wir mu geschrieben, und dann, du weißt es nicht? aber den Buchstaben hab ich dich doch erst gestern üben lassen, den Fliegerbuchstaben, der heißt ttö ,und das ttö schreibst du zweimal, oh Gott, es ist hoffnungslos, Gerald, will denn nichts in deinen Kopf hinein, dann weißt du wohl auch nicht, was nach den beiden ttö kommt, die Tante fasst ihn bei den Schultern und schüttelt ihn, und als er sich wehrt, schüttelt sie ihn stärker, und er weiß, sie ist wütend, denn er hört, wie rasch sie atmet, er spürt, wie erhitzt sie mit einem Mal wieder ist, aber nicht dampfend, nein, knisterig, sperrig stehen ihr die Haare vom Kopf ab, und als sie ihn weiter schüttelt, schreit er: ich will ja gar nicht, dass sie kommt! Soll sie doch dableiben, seine Mutter mit ihren hms und uhs und Fliegerbuchstaben, er will sie nie mehr, nie mehr sehen! Die Tante ist so außer sich vor Wut: zur Weißglut hat das Kind mich getrieben! dass er fürchtet, sie wird ihn schlagen, aber sie stößt ihn nur gegen den Tisch und reißt seine Hände hoch, sie zeigt auf die geschwollene Stelle an seinem rechten Mittelfinger und stöhnt: du lieber Himmel, eine Blase, die muss aufgestochen werden, da soll mir einer sagen, dass so etwas normal ist, gleich holt sie eine Nadel, denkt er, sie hat ja schon die weiße Schürze an, dann sticht sie zu und sagt: das wars, jetzt machen wir einen schlimmen Lappen drum, damit du weiterschreiben kannst! Aber statt dessen nimmt sie den Griffel in die Hand und schreibt mit einer solchen Wucht, dass er glaubt, der Griffel bräche entzwei, in großen Buchstaben Mutter auf die Tafel, später hat er es lesen können, denn das Wort konnte man nie mehr richtig wegwischen, solange er die Schiefertafel besaß, hat darauf blass, aber tief eingeritzt Mutter gestanden. ...

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