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Greta

Godberg

 

 

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Blick von Mundaka auf die Flussmündung des Rio de Guernica

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-- Textauszüge --

Keines Menschen Seele

Wachsen wie Gras über Nacht

Sultan und Saladin

 

Keines Menschen Seele

(6 Erzählungen)

 

4. Erzählung (Ausschnitt)

 

M u n d a k a

Ein Jahr lang waren die Zwillinge getrennte Wege gegangen. Simon hatte in den Vereinigten Staaten studiert, Sarah im Baskenland, wohin ihr Vater beruflich versetzt worden war. In Briefen und langen Telefongesprächen hatten sie sich über ihr Leben in den ihnen fremden Ländern ausgetauscht, weitschweifig, und hatten doch versucht, sich Geheimnisse zu bewahren: Simons Beziehung zu Lucy, Sarahs enge Einbindung in eine Studentenclique. Nach ihrem Wiedersehen müssen sie entdecken, dass sie sich kaum voneinander gelöst haben, bestürzender noch, dass sie weitaus mehr als geschwisterliche Liebe füreinander empfinden. Im Anschluss an eine blutig verlaufende Demonstration durch ETA-Sympathisanten wird Simon, dem Beschützer seiner "kleinen Schwester", stärker noch als ihr, die Ausweglosigkeit dieser Liebe bewusst. - Umfang: 19 Seiten

 

Mundaka

... In den ersten Tagen, nach dem Zubettgehen, war ihm Lucy noch ganz gegenwärtig, die Erinnerung an ihren Körper, wenn sie nebeneinander einschliefen, ihre Haut warm und glatt an seiner Haut, am Flughafen ihr Abschiedskuss, salzig von Tränen. Doch rasch hatte Sarah ihr Bild verdrängt, hatte ganz von ihm Besitz ergriffen. Sie bestimmte den Tagesablauf, plante die Ausflüge in die Umgebung, die sie sich im letzten Jahr mit Studienfreunden von San Sebastian aus erwandert hatte. Sie berechnete die Wanderzeiten, und nicht nur nach Kilometern, nach Waldwegen und Küstenstreifen, Steigungen und Gefälle, nach Kaffee- oder Essenspausen, nach Gezeiten, wenn Schwimmen oder Sonnenbaden auf dem Plan stand, oder das Durchqueren einer Flussmündung trockenen Fußes. Mundaka, sagte sie, wenn die Ria trockengefallen ist! Es hörte sich aus ihrem Mund an wie eine Verheißung, etwas ganz und gar Unerhörtes, Traumhaftes, und das war es auch: der Gang durch das breite, ockerfarbene Flussbett der Mündung mit den feingezeichneten Rillen, dem Abdruck der Wellen im Sand, oder den tiefen Furchen, den Dünenaufwerfungen und Tümpeln, im Ohr das Rauschen der Wellen, die einen Steinwurf entfernt an den bei Ebbe bloß liegenden Strand schlugen, sich ihnen schließlich, er hatte sich nicht trennen können von dieser Landschaft aus schimmernden Wüstenfarben und gleißender Bläue, bedrohlich zu nähern begannen. Sie mussten sich beeilen, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, mühten sich durch den Sand, der gerade noch fest gewesen und plötzlich so weich und morastig geworden war, dass sie tief einsanken, mit Macht drückte die Flut von unten herauf. Als sie es geschafft hatten - nicht trockenen Fußes, tropfend nass bis hinauf zu den Schenkeln - sahen sie von der Böschung her zu, wie sich das Flussbett mit Wasser füllte, das Meer den Strand überflutete, wegzauberte, ein Stückchen Vineta im Zwölfstunden-Rhythmus, in zwei Stunden, schätzte Sarah, dürfte der Fluss schiffbar sein. Sie bewunderten die Surfer, die, von Gischtfontänen umsprüht, auf den jetzt hoch aufgeschäumten Wogen einherritten, den berühmten Wellen von Mundaka, Tunnelwellen, den einzigen, die es - laut Sarah - in Spanien gab. Hier schaffen es nur Meister ungestraft, sagte sie, und nach einer Weile: Ich weiß etwas was du nicht weißt, rate. Und als er sich nicht auf das Spiel einließ: ich werde im nächsten Sommer einen Surfkurs machen, mit dir oder ohne dich. Es verschlug ihm die Sprache: dass sie an eine solche Herausforderung auch nur zu denken wagte! (Und natürlich meinte sie mit dir, dem Rettungsschwimmer!) Andererseits, hatte er sich nicht langsam an die Kaprizen seiner von ihm stets so behüteten Schwester gewöhnt, die Art, wie sie jetzt vorwärts stürmte, ausdauernd und behände? Und er, halb betäubt noch in den ersten Tagen vom Jetlag, halb betäubt vom Kulturschock: von einem fremden Kulturkreis in den anderen geworfen! ließ sich mitziehen, hin und hergerissen zwischen Bewunderung und der Sorge, das Blatt könne sich urplötzlich wenden. Die Blicke auf ihre Füße in den weißen Turnschuhen geheftet, folgte er ihr, wenn sie vorauseilte beim Erklettern eines Hangs, eines schon von den ersten Brechern der anrollenden Flut umspülten Felsen, ihre Füße zielsicher in die Felsnarben, die Höhlungen gesetzt. Was war bloß, fragte er sich, während seiner Abwesenheit mit ihr passiert, dass sie, gerade sie, ihrem Körper, so blind vertraute, und du, empfing sie ihn, wenn er auf der Felsspitze ankam mit Spott, was hast du eigentlich drüben gemacht, dass du bei so wenig Anstrengung schon ins Keuchen kommst? Einmal, nach einer Klettertour auf einen Bergrücken, der zu einer Seite hin steil zum Meer abfiel, hatte er sie von der Felskante zurückgerissen, die Arme ausgebreitet, mit wehenden Haaren und flatternder Bluse hatte sie dort gestanden, wie zum Absprung bereit. Fliegen - sie hatten es früher, von der Gartenmauer aus in die darunterliegende Sandkuhle oft gespielt. Er fürchtete, sie könnte ihn abwehren, doch sie hatte sich in seine Arme geschmiegt und mit ihm im Walzerschritt um und um gedreht, oben auf dem Felsplateau, auf dem die baskische Flagge wehte. Abgesehen von der Begrüßung am Flughafen, waren sie sich lange nicht so nah gewesen, der Geruch ihrer Haare, ihres Körpers nach Schaumbad und frischem Schweiß, nahm ihm den Atem. Lass uns einen Picknickplatz suchen, sagte sie, als ihnen schon ganz schwindelig geworden war. Sie fanden einen breiten, abgeflachten Stein, auf dem sie sich niederließen. Während sie ihre Blicke über das Meer zu ihren Füßen schweifen ließen, aßen sie die Brote und das Obst, blieben nach dem Essen noch lange sitzen, schweigend. Das Meer war nur leicht bewegt, gesprenkelt mit glitzernden Schaumkrönchen, wenn eine größere Welle heranwogte und am Fuß des Bergrückens in Regenbogenfarben zerspritzte, drang dumpfes Dröhnen und Klatschen zu ihnen herauf, hin und wieder zerrte eine Windbö an ihren Haaren, umspielte mit Harfentönen die Felskante. Hör doch, flüsterte Sarah und schloss die Augen: Sierragesang. Sonst war es ganz still. Und in die Stille hinein sagte Simon, und erkannte an ihrem Blick, dass sie wusste, was er ihr - endlich - mitteilen wollte: ich hatte eine Freundin drüben, Lucy. Ich weiß, sagte sie, und nach einer Weile, willst du Kontakt mit ihr halten? Und als er schwieg: Du weißt es also noch nicht! - Kurz danach brachen sie auf. Sie kamen durch einen kleinen Ort, ein baskisches Nationalistennest, sagte Sarah, trotzdem, nette Leute, nicht so abweisend wie in manch anderen abgelegenen Dörfern, was natürlich nicht ausschließt, dass es auch hier eine Kommandozentrale der ETA geben könnte, schau da, an der Wand die GORA-ETA-PAROLEN und in den Häusern direkt nebenan die Fahnen mit dem Umriss der 7 Provinzen, die sie als unabhängiges Territorium einfordern. Der Rest, sie zeigte auf die übrigen nicht beflaggten Fachwerkhäuser, ist Schweigen. So ist es nun mal in diesen Gegenden, gespaltene Gesellschaft, Punkt. Simon wunderte sich über die Ungerührtheit, mit der seiner Schwester die Worte von den Lippen kamen. Sie wusste so gut wie er, nein, sie wusste es besser, sie kannte sogar Namen und Schicksale, hatte es ihm geschrieben, dass in einigen Ortschaften Täter- und Opferfamilien auf engstem Raum zusammenlebten, und es nur eine Frage der Zeit war, wann es zu Entführung oder Mord kam. Ihm war das Dorf, vor allem jetzt, zur Siestazeit, unheimlich. Außer ihnen war niemand in den Straßen zu sehen. Seit zwei Tagen gab es Südwind und hier, abseits vom Meer, fand er es unerträglich heiß. Als sie einen kleinen Platz überquerten, kam es ihm so vor, als ginge er ungeschützt über einen Innenhof und aus den Fenstern ringsum folgten ihm durch die Gardinen hindurch argwöhnisch beobachtende Blicke. Unsinn, hörte er Sarah sagen, hier muss niemand jemanden beobachten, jeder weiß ohnehin von jedem zu welcher Partei er gehört. Außerdem, Simon: Wir zählen überhaupt nicht. Denk nicht weiter darüber nach, komm, ich stelle dir Amaya und Maite vor. In der kleinen Café-Bar begrüßte sie die - über alle Maßen erfreuten - Inhaber-Schwestern mit Umarmung und Wangenküssen. Auch er wurde umarmt und geküsst. Wie in fast allen Bares und Restaurants, in die sie ihn geführt hatte, erkannte man in ihm den "großen Bruder": El Gemelo. Und auch hier wollte das Staunen und die Bewunderung über ihre Ähnlichkeit kein Ende finden. Beim Kaffee sprachen die Frauen eine Weile auf Baskisch miteinander, verschwörerisch, dachte Simon verärgert, Geheimniskrämerinnen, da kehrten sie rasch zum Spanisch zurück. Er verstand, dass über Sarahs Freunde gesprochen wurde, wo sie seien, doch nicht etwa schon zurückgekehrt in ihre Heimatländer? Sarah nickte, die meisten, mit ihrem Spanisch Diplom im Gepäck. Sie wechselten erneut ins Baskische, bis Sarah ihm den Arm auf die Schulter legte und sagte: wir Zwei gehen zum Studium nach Berlin, aber keine Sorge, die Ferien werden wir hauptsächlich hier verbringen, stimmt doch, Bruder Medicus. Oder?

Am Ende dieses Tages fiel er todmüde ins Bett, versuchte, bevor er die Augen schloss, an Lucy zu denken. Sofort kam ihm Sarah in den Sinn. Er sah die sich vor ihm abrollenden Füße in den weißen Schuhen, die braunen kräftigen Waden, die straffen Schenkel, nur knapp von den eng sitzenden und wie er dachte (war er so prüde geworden, drüben?) zu kurzen Shorts bedeckt, er sah ihr Gesicht, wenn sie sich umdrehte und lachte, die goldbraunen Haare mit den bunten Hairwraps schüttelte. Dann, unerwartet, rannte sie davon, er konnte sie nicht einholen, du keuchst ja, sagte sie, tatsächlich, er keuchte, bekam kaum noch Luft, als er stehen blieb um tief durchzuatmen, war sie verschwunden. Such mich, such mich, hörte er sie rufen. Er ging am Ufer eines Sees entlang, da sah er sie in einem Kahn stehen, klein, im weißen Kinderkleidchen, die Zöpfe, ein wenig zu straff geflochten, standen ihr vom Kopf ab, spring doch, forderte sie ihn auf, die Augen so tiefblau, dass er dachte, das ist Hexerei, man könnte in ihnen ertrinken, von dem Schmerz, der beim Springen durch seine Brust zuckte, wachte er auf, sah ihre Gestalt noch sekundenkurz am Boden des schaukelnden Kahns liegen, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Jetzt ist es passiert, dachte er, ich habīs doch gewusst, während ihm der Schweiß ausbrach, und der Schmerz in der Brust sich in Wellen über seinen ganzen Körper ausbreitete. Jetzt hatte sie ihn gerufen - vielleicht.

Das Zimmer drehte sich um ihn, als er sich aufsetzte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihm war übel. Natürlich, der Südwind, die elendig lange Wanderung an der Küste entlang und über die Dörfer. Er war nicht an soviel Sonne gewöhnt. Und Sarah? Wie konnte sie mit einem Mal solche Strapazen ertragen? Er hatte sie nicht danach gefragt, nicht zu fragen gewagt, wusste überhaupt nicht mehr, was in ihr vorging. Sie hatte ihm den Zugang zu ihren Gedanken versperrt, hatte ihnen keinerlei Muße gelassen und ihn herumgeführt am Gängelband. Platzend vor Selbstbewusstsein. Wenig hatte in ihren Telefongesprächen, ihren umfassenden Informationen über ihr Leben in diesem Land auf eine solche Wendung hingedeutet, ein paar Abenteuererlebnisse, ja, im Rahmen der Beschränkung, die ihr auferlegt war, hatte er gedacht. Er versuchte, sich an verräterische Zeichen innerhalb der letzten Tage zu erinnern, an plötzliche Abwesenheiten, an ein Stocken des Gesprächs. Er hatte nichts bemerkt, nichts gespürt. Trotzdem - ob sie es wollte oder nicht: Er musste zu ihr. Nach ihr sehen. Sich an ihr Bett setzen, wie früher, wenn sie nach getrennten abendlichen Unternehmungen noch ins Reden gekommen waren. Wie früher, wenn er sich neben sie gelegt hatte, sie zu trösten und bei ihr zu bleiben nach einer ihrer - Ohnmachten. Jetzt war ihm danach, sie aus dem Schlaf zu reißen, sie zu schütteln, zu fragen: Was, um Himmels willen, willst du mir eigentlich beweisen? Deine Eigenständigkeit? Deine Unverletzbarkeit? Verdammt noch mal, Sarah: wie geht es dir?

Das Schwindelgefühl hatte nachgelassen und so stand er auf, schlüpfte in seine Shorts und ging zielstrebig durch das Labyrinth des neuen Hauses den dunklen, gewundenen Korridor entlang zu ihrem Zimmer, die Hand schon auf der Klinke der Tür, zögerte er, sie zu öffnen. Wie er selbst würde Sarah bei dieser Hitze nackt schlafen. Das Ohr an den Türspalt gelegt, stand er und hoffte, sie atmen zu hören. Ruhig. Regelmäßig. Im Rhythmus mit seinem Atem. Die Wände des Hauses waren dünn. Er musste sich zwingen, nicht nach ihr zu rufen, hauchte eher, als dass er sprach, seine Frage durch den Spalt: He, Sarah, bist du wach? Es blieb still um ihn herum, nur ab und zu drang von weit her das Geräusch der träge den Strand netzenden Wellen zu ihm hindurch. Wie ein Plimpern, ein Seufzer des Atemschöpfens. Er wollte gerade zurückgehen, da hörte er Sarah husten. Noch ehe er an die Tür klopfen konnte, rief sie: In Gottes Namen, Simon, geh ins Bett! Du schleichst ja wie ein Dieb durchs Haus. Und jedes Wort betonend: Ich... bin...okay! Bis zum Morgengrauen saß er auf der Terrasse. Sein Kopf glühte und sein Körper schmerzte von Sonnenbrand und Muskelkater. Am nächsten Tag, für kurze Zeit allein mit der Mutter, fragte er sie nach Sarah. Es kam ihm vor wie Verrat. Obwohl sie ihm versicherte, dass die letzten Tests gut gewesen waren, ausgesprochen gut sogar, bis auf kleine Abweichungen beinahe unauffällig, die Ärzte hätten ihnen ja immer wieder versichert, es könne sich alles noch auswachsen, und soweit sie wüsste, habe es schon lange keine Zwischenfälle mehr gegeben, keine größeren jedenfalls: das ist doch eine großartige Nachricht, hat denn Sarah nicht mit dir darüber gesprochen? wollten die Zweifel nicht weichen. Hör zu, Simon, fuhr sie fort, ich wollte es dir immer schon sagen: Du bist nicht für deine Schwester verantwortlich. Ich denke, der Abstand war genau das Richtige für euch. Sarah hat sich in San Sebastian in ihrer Studentenclique sehr wohl gefühlt, kontrollier sie nicht zu ängstlich, wenn ihr in Berlin seid. Über den Tisch hinweg legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Und du? sagte sie zärtlich, du hast eine Freundin in Boston? - Woher weißt du das? - Von Sarah. Sie hat es mir vor drei oder vier Monaten gesagt. ...

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