IranKachel

 

Greta

Godberg

 

 

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Ghashgai-Nomaden nahe Shiraz

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-- Textauszüge --

Die ausgestorbene Stadt

 

I R R F A H R T

 

 

IRRFAHRT

Roman

(Ausschnitt)

Stern erwacht

Stern saß allein in der Gondel eines Riesenrades. Das Rad drehte sich so behäbig, so gebremst in seinem Zahnradrhythmus, dass es kaum von der Stelle kam. Umso erstaunter war Stern, als er sah, wie hoch er bereits über dem Rummelplatz schwebte. Er konnte die Menschen zwischen den Ständen und Karussells nur noch als fliehende Punkte erkennen. Unregelmäßig und schrill - Lautfetzen, von Mündern und Orgelpfeifen gerissen - drang das Stimmengewirr, drang die Musik zu ihm hindurch. Während er sich zurück in seinen Sitz lehnte, hob eine Windwoge die Gondel empor, zügig und sanft zugleich. Auch ohne hinzusehen hätte Stern gewusst, dass er jetzt auf dem höchsten Punkt angelangt war. Weit, weit unter ihm erstreckte sich eine sandfarbene Ebene, endlos, unbegrenzt, nur in der Ferne ragten im Dunst die Zinnen eines Gebirgszugs auf. Bishahpur-Schlucht/IranMit einem Mal war es still um ihn herum; nur dann und wann, wenn die Gondel leicht, vom Wind bewegt, schwankte, schaukelte, gleich einer von Zeltpflock zu Zeltpflock gespannten Kinderwiege, hörte er das Quietschen, nein, das Sirren in den Haltestangen über dem Gondeldach. Stern überlegte, wie er die Ebene, die Sandfläche, die inzwischen eine helle Purpurfarbe angenommen hatte, am besten fotografieren könnte, die Weite allein, die Farbe herausgearbeitet, mit welcher Linse, welchem Filter - da zog es die Gondel unvermittelt, mit Rütteln und Pfeifen in die Tiefe, und das Rütteln und Pfeifen dauerte an, auch als sie am Boden aufgekommen war. Dann wurde es abgelöst von einem langezogenen Geheul, anschwellend, abschwellend. Mit dem Wort Schakal auf den Lippen schreckte Stern auf aus seinem Traum - dem Wüstentraum. Und in der Wüste befand er sich ja auch, in seinem VW-Bus am Rande der Ausgrabungsstätte von Bishahpur, im Schutz eines Viehkrals. Die Augen noch geschlossen, dachte er: na also, ins Schwarze getroffen, da geht er hin, Stern, dein Altweibersommer, das Zeichen hat noch nie getrogen!

Er hatte am Vorabend, beim weiträumigen Erkunden des Geländes - ungewohnt kalt war ihm gewesen, die Füße in den lammfellgefütterten Schnürstiefeln schmerzten und prickelten vor Kälte - um den vollen Mond herum jenen glasig-trüben Lichterkranz entdeckt, der in den hiesigen Breiten einen Wetterumschwung ankündigte. Einen Wettersturz, denn die frühlingshafte Wärme, die schweißtreibende Hitze des Mittags, die ihn am Steuer hatte schläfrig werden lassen und die fliehende Landschaft um ihn herum in Flutfelder verwandelt hatte, flirrende, ihn verwirrende, zeitweise war ihm, als führe er über die Landbrücke eines Sees und Wasserzungen leckten von beiden Seiten über das aufgetürmte Geröll, das Buschwerk am Wegesrand hinweg auf sein Auto zu, so hautnah von Luftspiegelungen bedrängt, war er sich niemals vorgekommen - diese Wärme war für die Jahreszeit, Mitte Dezember, und selbst für den südlichen Teil dieses Landes, auf den Bergen lag bereits Schnee, äußerst ungewöhnlich gewesen.

Und so fand er denn auch den Morgenhimmel, als er sich aus dem Schlafsack geschält und die Seitentür des Autos geöffnet hatte, mit weißen, bizarren Wolkenschleiern verhangen; zwar drang die Sonne noch durch die lichteren Wolkenschichten, die Inseln aus fahlem Blau, hindurch, aber sie war von schlierig schwefligem Gelb, grell und kraftlos. Was für eine kränkliche Sonne, hätte Milena gesagt und ins Bordbuch geschrieben: 8. Dezember 1977, 9.00 Uhr, Sonne "krank". (Tatsächlich war es bereits der 10. Dezember, wie Stern bei einem Blick auf seine Uhr feststellte, und dieses Datum sollte er als "historisch" im Gedächtnis behalten, zumal es sich mit dem 10. Dezember 78 deckte, als mit den Massendemonstrationen zum Ashura-Tag die entscheidende Phase der Revolution begann). - Der Wind war eisig. Wenn er in Böen gegen das Auto anstürmte, wirbelte er selbst hier, wo der Boden mit Krüppelbüschen und Distelgestrüpp bedeckt war, Staub und Sandkörnchen auf; trafen sie auf die nackte Haut, fühlte es sich an, als drängen spitznadelige Dornen in sie ein. Als Stern, vom morgendlichen Toilettengang zurückgekehrt, in seine Jeans schlüpfte, sah er, dass beide Beine mit zahllosen roten Pünktchen bedeckt waren.

Da an ein gemütliches Frühstück vor dem Auto nicht zu denken war: unter einer Sonne, die den Körper so rasch durchwärmte und geschmeidig machte, dass Stern sich, die Glieder wohlig gedehnt, zurücklehnen und ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegen konnte, Morgenstriptease hatte Milena diesen Entkleidungs-Akt genannt, entschloss er sich zu raschem Aufbruch. Mit routinierten Griffen verwandelte er das Auto vom Nachtlager ins Überlandgefährt, das Bett im hinteren Teil zurück zur Sitzbank, setzte Wasser auf den Campinggaskocher und aß drinnen lustlos, eher aus Gewohnheit als mit Appetit, zwei Scheiben Dosenbrot "volles Korn", dazu, direkt vom Löffel mit schmerzenden Zähnen "bisschenweise" iranische "Tropfmarmelade", eine Bezeichnung, die Julian für das süße, schleimhautreizende Gemisch aus Honig und Früchten gefunden hatte. Die letzte halbe Schnitte aß er pur, um die Klebrigkeit und den Honiggeschmack im Mund loszuwerden. Das einzige, was er an diesem Morgen genoss, war der Kaffee, cremig, mit Milchpulver geweißt. Der Kaffee war so heiß, dass er ihn nur langsam schlürfen konnte; somit würde er, obwohl es ihn zum Aufbruch drängte, doch noch eine Zeitlang an diesem über Nacht so unwirtlich gewordenen Ort verweilen.

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