IranKachel

 

Greta

Godberg

 

 

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GionFest-Sänfte

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-- Textauszüge --

Die Reinigungszeremonie

 

Das Kind am Kagurazaun

 

 

Das Kind am Kagurazaun

Kurzroman

(Ausschnitt)

Herbeiwarten des Festes

Das Gion-Geschehen - das grenzüberschreitende - das aufzuzeichnen Nikolas mich seit unserer Rückkehr aus Japan immer wieder drängt, hat sich im letzten Sommer in Kyoto zugetragen, am Abend der Sänftenreinigung, Mikoshi Arai genannt. Es hatte Zeichen gegeben, Warnzeichen, im Festtrubel, in dem ein Eindruck den anderen übertrumpft, nicht genügend wahrgenommen, ernst genommen. Sinnestrugereignisse, Fluchtimpulse, plötzliche, bedrohlich aus dem Nichts heraus Gestalt annehmende Verlustängste, den ganzen Abend über hatte ich Nikolas nicht aus den Augen lassen können, einen Zwölfjährigen, der sich in der Stadt bereits soweit auskannte, dass er, wenn es darauf ankam, auch allein nach Hause gefunden hätte. Tori-Wald Trotzdem - wir hatten es genossen, unser Einstandsfest zur Regenzeit, wenngleich mit Stöhnen über die feuchte stickige Hitze, mushi atsui, mit den Fingern greifbar schienen die Krankheitskeime, um deren Bannung nahezu alle Gion-Rituale kreisen, in der Luft zu liegen. Obwohl nicht alles nach Wunsch verlief, entging uns doch wenig vom Festablauf, uns wurde ja auch, sagte Nikolas jedesmal, wenn die Sprache auf den Abend kam, mit der ihm eigenen Vorliebe für Redensarten, kein Haar gekrümmt.

Nein! Nicht wirklich. Ohne Zwischenfälle war die Reinigungszeremonie, dem Mikoshi geltende Wasserbesprengungen mit einem Zweig des als heilig geltenden Sakakibaums auf der Shijo Brücke über die Bühne gegangen, dem Massengedränge auf kleinem Raum, dem in Schüben die Sänfte überstiebenden Funkenregen der Fackeln zum Trotz; unter respektabler Publikumsbeteiligung, respektabel zumindest für ein Randereignis der Gion-Veranstaltungen; getreu der Überlieferung: kein Priester würde je auch nur um ein I-Tüpfelchen von einer einzigen der vorgeschriebenen Gesten abweichen; zur vollen Zufriedenheit der Zuschauer, Beifallsbekundungen wurden laut, Erregung hatte die Menge erfasst, Einstimmungsfreude und In-Schwung-Kommen, ein Kick - ein Klick ... Wie alle Festteilnehmer waren auch wir im Anschluss an die Zeremonie zum Yasaka Schrein aufgebrochen, der in einem Heiligenschein von Lampions davonschwebenden Golddachsänfte hinterdrein, einer von drei transportablen Sänften, eine stellvertretend für alle gereinigt, gerüstet, die Götter aufzunehmen; eine Woche später würden sie segnend, Krankheiten bannend und Krankheiten austreibend, durch die Straßen des Gionviertels getragen werden. Im Sturmschritt war es uns gelungen, die Sänfte auf halbem Weg zu überholen und uns an die Spitze des Prozessionszugs zu setzen. Seiltänzerisch - und risikoreich, im Vertrauen auf die eigene Gefahreneinschätzung - hatte Nikolas sich auf der Spur der Festakteure, der lendenschurzbekleideten Mikoshi-Träger in ihren kniehohen Stoffschuhen, von einer Fotografier-Position zur anderen über die Straße bewegt, während ich ihm bis zum Aus-der-Hautfahren gereizt nachgeeilt war, allzu langsam war die Menge auf dem schmalen Bürgersteig vorangekommen. Als erste hatten wir den mit zahllosen weißen Papierlaternen erleuchteten Schreinbezirk betreten, nach längerer Wartezeit das Rückkehrritual der Sänfte miterlebt, vor dem plötzlich einsetzenden Regen, der die vom Schweiß klebrige Haut mit noch mehr klebriger Nässe überzog, unter einem der beiden großen Eingangstore Schutz gesucht, uns schließlich, da Nikolas im Gedränge vor dem Hauptgebäude des Schreins nur knapp einem Unfall entronnen war, zum vorzeitigen Verlassen des Festes entschlossen - und waren dann doch geblieben, saßen in Erwartung der Schreintänze vor der zu jedem größeren Schreinkomplex gehörenden Kagurabühne; allerdings nicht, wie zuvor auf der Brücke, einträchtig nebeneinander, nein, getrennt und missgestimmt. Durch den Beinahe-Unfall und die anschließende Diskussion um Bleiben oder Gehen hatten wir viel Zeit verloren, als wir uns endlich für die Tanzdarbietung entschieden hatten, waren alle für die Zeremonie provisorisch aufgestellten Bänke besetzt. - Weißt du, was das heißt, hatte Nikolas mich angefaucht, wieder einmal Herumstehen bis endlich was passiert! Ohne mich! - Gerade noch der Überlegene, Abenteuersuchende, glücklich und ohne große Verletzungen davongekommen, hatte er jetzt das bedauernswerte kleine Kind herausgekehrt, mit Schrammen an Knien und Ellenbogen, schmutzig vom Sturz vor die Mikoshi-Räder, da guck, mal, meine neue weiße Hose versaut, die Flecken gehen doch nie mehr raus, hatte mir, obwohl ein paar freundliche Festbesucher sich auf einer der Bänke zusammendrängten, um uns Platz zu machen, den Rücken gekehrt, war mitten durch die dicksten Pfützen zur Sakralbühne gerannt und auf einen Pfosten des Zauns geklettert, der die Bühne umschloss. Da saß er, eingesponnen in seinen Kokon aus Trotz und würdigte den freien Platz neben mir keines Blickes. Seine ganze Haltung drückte Auflehnung und Verdruss aus: die auf engstem Pfostenraum artistisch übereinandergeschlagenen Beine, der zum Gewichtsausgleich leicht nach vorn geneigte Oberkörper, die Arme, die Hände voll Unmut in den Schoß gedrückt; beinahe körperlich spürbar war die "Stille Wut", die von den Rundumschläge nur mühsam unterdrückenden Fäusten ausging. Der Mund verschlossen, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen - gestorben war die Welt ringsum, nicht mehr zur Kenntnis genommen. Kurz: aus dem Zentrum des Geschehens, aber selbst an dessen äußerstem Rand noch unübersehbar in seiner für hiesige Verhältnisse exotischen Präsenz, hatte er sich auf den Protestpfeiler des Kagurazauns nicht nur zurückgezogen, sondern im Wissen um seine Blickfangwirkung sogar aus dem Abseits heraus, effektheischend postiert: Da bin ich, schaut ruhig her! Doch wehe, jemand wagt es, mich anzurühren!

Schamlos! Zusammen mit einer Welle heftiger Verärgerung kam mir das Wort von den Lippen. Ja, es war schamlos, wie selbstverständlich er sich wieder einmal in der Publikumsgunst sonnte, und wie sehr ihm dieses Publikum auf den Leim ging, ihm huldigte mit Blicken und untereinander ausgetauschten Lobesworten, geflüsterten und laut herausgesagten. Ich hätte aufspringen mögen, diese eigensinnige, sich mehr und mehr von mir absplitternde Zwölfjährigenperson von ihrem, wie er mir später gestand, Marterpfahl genannten Thronsitz herunterzureißen! Aber zur Vernunft kommend - wollte ich uns lächerlich machen? Strafen austeilen? Ohrfeigen vielleicht? - begann ich ihn über die halbe Steinwurf-Entfernung hinweg ins Auge zu fassen, seinen Körper, sein Gesicht, mit prüfenden Blicken Zoll um Zoll abzutasten und keineswegs mehr in westländisch gewohnter Sichtweise, sondern, die Haut, die Rolle gewechselt (ein unzulänglicher Versuch, ich gebe es zu), mit Mandelaugenblicken: Haare blond, Augen blau, perlmuttfarbene Haut ... eine Standardperson der westlichen Hemisphäre? Austauschbar? Mehr als das: über alle Maßen Inbegriff eines hellhäutigen Wesens, und, trotz ersten Jugendlichenverhaltens kindlich, kawai: schön, (lieb)reizend, und - er würde mir die Hand auf den Mund pressen, damit es unausgesprochen bliebe, das verfemte Femininadjektiv - süß! Kawai: geflügelter Ausruf ganzer Mädchengruppen bei seinem Anblick! Kawai: mit Schleifen des Entzückens in der Stimme gesungen von Teenagern, die nur wenig, gerade um eine einschneidende Schwellenspur älter waren als er! Bewunderungsrufe, die ihm in diesen sich fast täglich wiederholenden Fällen lästig waren, peinlich! Kawai - das bedeutete auch klein, nicht nur um Haaresbreite, um Handbreiten zu zierlich, zu klein, und damit, wie paradox es auch scheinen mag, ausersehen, von Japanern zum Helden erhoben zu werden, Kindheld Yoshitsune, Pfirsichjüngling Momotaro-chan. - Held! Auf den Nerv getroffen! Mit einem Ruck durch den Körper fand ich mich in meine eigene Haut zurückgekehrt, in die Rolle der Landesfremden, der Mutter, sah, mit jenem unerklärlichen Gefühl von Beunruhigung, das mich schon mehrfach an diesem Abend befallen hatte, meinen Sohn in fernöstlicher Umgebung sitzen, in fremdartigem und vertrautem Rahmen zugleich und, merkwürdig genug, wie verwachsen mit dem Ort des Geschehens: eine vor dem weitläufigen Hintergrund des Schreingeländes mit seinem im Nieseldunst verschwimmenden - und je stärker der Dunst sich ausbreitete ganz und gar unwirkliche Züge annehmenden - Eingangstor einsame Gestalt, die gerade noch bis zum Herzschlagstocken knapp vom Scheinwerferlicht erfasst und aus der Dunkelheit herausgerückt wurde, und die mich ungeachtet der physiognomischen Abweichungen an den einsamen Samuraihelden in nostalgisch einsamer Kulisse vor dem entscheidenden, und - wie könnte es anders sein - letzten siegreichen Kampfgefecht erinnerte. - Samuraiheld-Parodie! Die Vorstellung erheiterte mich, begrub den Zorn, die Unruhe, dieses ständige Hab-acht-Sitzen auf einem Vulkan. Mit zärtlichem Umfassen ruhte mein Blick jetzt wieder auf Nikolas, der sich, den Eindruck absoluten Unbeteiligtseins zu erwecken, abmühte, jegliche Muskelregung, jegliches Mienenspiel zu unterdrücken, und das meisterhaft. - Aber noch vor jedem stillschweigend vollzogenen Applaus, intuitiv, als wolle er sich nicht in ein Klischee pressen lassen, und sei es noch so schmeichelhaft, veränderte er seine Haltung. Er nahm die Hände aus dem Schoß - willig ließen sie voneinander ab - wischte sich den Schweiß von der Stirn und unter den Haaren fort, und vorsichtig, wie auf der Hut vor Verletzungen, strich er sich mit den Zeigefingerkuppen über die Lider, schloss sie, legte die Finger auf die Wangenknochen, ließ sie eine Weile dort und hob dann ganz plötzlich, aus dieser Position des Innehaltens heraus, halb abwesend, halb verschreckt, so jedenfalls schien es mir, die ich mit angehaltenem Atem zugesehen hatte, eine Hand, die rechte Hand an die rechte Schläfe ... Vergesslichkeitsgeste! Die Interpretation drängte sich mir geradezu auf. An was mochte er sich wohl so angestrengt mit Stirnrunzeln und Heben der Augenbrauen zu erinnern versuchen? Am Ende barg er das Gesicht in den Händen, kurz nur, rieb sich erneut und gründlicher als beim ersten Mal Stirn und Haaransatz, Hals und Nacken trocken und legte dann beide Hände, die rechte, die linke, zupackendfest auf den jeweiligen Nebenpfosten seines Lattensitzes. Und so, aufgestützt, saß er mit einem Mal ohne eine Restspur von Trotz mit offenem Gesicht da, den Oberkörper zurückgelehnt, die Arme ausgebreitet, die Beine baumelnd hinab.

GLOSSAR japanischer Wörter und Begriffe

Kagura: Ritualtanz; er wird bei Opferhandlungen oder an Festtagen auf einer zum shintoistischen Schrein-Bezirk gehörenden Bühne von Schrein-Tänzerinnen aufgeführt.

Matsuri: (Schrein)Fest

Mikoshi: Göttersänften

Momotaro: Japanischer Däumling, einem Pfirsich entsprungen

Yoshitsune: Historische Gestalt (12. Jh.), Gegenstand von Legenden, Erzählungen, Theaterstücken. Besonders beliebt ist Yoshitsune als strahlender Kinderheld, wird gern verglichen mit der Kirschblüte, dem Symbol von Reinheit, Schönheit, Vergänglichkeit.

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