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-- Textauszüge --

Herbeiwarten des Festes

 

Das Kind am Kagurazaun

 

 

Das Kind am Kagurazaun

Kurzroman

(Ausschnitt)

Die Reinigungszeremonie

Nach langer Wartezeit: Die Reinigungszeremonie am Kamofluss

Wie das Raunen um uns herum, das Schieben und Stoßen, das eilfertige Schussbereitmachen der Kameras ankündigten, schien die Wartezeit dem Ende zuzugehen. Ausgerechnet jetzt, wo die Prozession herannahte, passierte ein langsam dahinkriechender Zug die Straße. Nachdem er vorübergefahren war und die Schranken sich gehoben hatten, als teile sich endlich der Vorhang für den entscheidenden Theaterauftritt, glitt unter ihnen die Prozession hindurch. Flankiert von Fackelträgern führte ein Priester sie an, schritt, ganz in Weiß gekleidet, in weite, weiße Gewänder, die dem Zuschauer den Eindruck von absoluter Makellosigkeit übermittelten, gemessen, doch federndleicht, so, als berührten die Füße den Boden kaum, auf die Mitte der Brücke zu. In seinen gegen das Weiß des gestärkten Baumwollstoffs und die weiten, schwingenden Flügelärmel geradezu zerbrechlich wirkenden Händen, trug er mit lose umgreifenden Fingern den Sakakizweig, das Instrument der Reinigung vor sich her - ein Priesterjüngling mit glattem, im Schein der Laternen matt glänzendem Gesicht, faltenlos, bartlos, halb nur von dieser Welt, schoss es mir durch den Kopf, allein die Lippen, rot und jugendfrisch, ließen auf ein doch vorhandenes, auf Berührung neugieriges Körperdasein schließen, kurz: eine ätherische Gestalt, hinter der wie mühsam gebremst, mit verhaltenem Ungestüm, aus der Prozession ausscherend, Kreise und seitliche Breschen schlagend, die Mikoshiträger herandrängten, sich mitsamt der Schreinsänfte auf der Stelle drehten, tänzelten, sie ruckartig herumrissen, hochwuchteten und zurückfallen ließen, so dass der Eindruck entstand, die Sänfte mit dem gerundeten, im Schein der Fackeln und Leuchtreklamen gleißenden Golddach werde, einer Nuss-Schale auf den hohen Wogen des Meeres vergleichbar, der Willkür und den Naturgewalten ausgeliefert, hin- und hergeworfen, haltlos, während sie doch in Wirklichkeit von der aufeinandereingeschworenen, sich mit rhythmisch intonierten Anspornrufen verständigenden Sakralmannschaft souverän dirigiert wurde, von Schauspiel-Sänftenträgern, die sowohl die Trageaktion - tatsächlich wurde das in einen ausladenden Holzrahmen gehängte Mikoshi nicht getragen, sondern gefahren - als auch das bei Schreinfesten übliche Rüttel-Schüttel-Zeremoniell (Umkehrung der Werte: die allgegenwärtigen Götter hilflos, und, wie unterstellt wird, genießerisch in den Händen der Sterblichen) überzeugend und effektvoll mimten, zum eigenen Ergötzen und zum Gaudi des Publikums. Darüber hinaus kam es ihnen darauf an, sich selbst, die Hauptdarsteller des Abends, bewunderungsheischend zur Geltung zu bringen, und keineswegs nur am Rande, sondern im Rampenlicht, in Nackt-und-Kraft-Pose zu zeigen, was in ihnen steckt, und was sie sein oder scheinen möchten: Männer, im Gegensatz zum Nicht-von-dieser-Welt-Priester, strotzend vor protziger Leiblichkeit, ganz dem Diesseits zugetan, Athleten mit Muskelpaketen und schwarzer Brust-behaarung, die Gesichter, die nackten Oberkörper schweißglänzend und broncefarben. Ganz eigenständig in ihrer Rolle als pantomimische Possentreiber waren sie übrigens nicht. Ein Ordnungshüter hing ihnen an und behielt sie, indem er, einen angemessenen Sicherheitsabstand wahrend, die Bewegungen des Mikoshi vorausschauend mitvoll- zog, streng im Auge, ließ, je nach Situation Anweisungen über ein Megaphon erschallen und bestimmte am Ort des Geschehens die Position für die Reinigungszeremonie.

Na endlich! Wurde ja auch Zeit! hatte Nikolas ausgerufen. Aber wie sehr er sich auch auf diesen Augenblick gespitzt und vorbereitet hatte, auf seinen Einsatz, die Kamera überprüft und zur Hand, jetzt, wo schnelles Handeln und Reaktionsvermögen doppelt zählten, stand er wie festgewurzelt am Straßenrand, staunend, stumm, während um uns herum unter unablässigem Surren und Klicken Fotografierschlachten geschlagen wurden, Schlachten der Augenblicksfestschreibung, so trommelfelldurchbohrend, dass er aus seiner Trance hätte aufwachen müssen, sich erinnern an seine eigene Fotografierbesessenheit, der er seit kurzem verfallen war, der Weltbetrachtung - vorzugsweise, auszugsweise - durch das Spiegelreflex-Objektiv einer Kamera. Erst als der Priester mit dem Sakakizweig dicht herangekommen war, auf das lohnende Foto-Objekt mit der Nase regelrecht gestoßen, riss er die Kamera hoch. Doch ehe er zum Zuge kam, stürzten die Medienexperten der Prozession entgegen und bauten sich mit ihren Trittstufen und Leitern vor uns auf. Kaum hatten die Träger mit dem Mikoshi die Mitte der Brücke erreicht, da war es bereits von Zeremonialbeteiligten und Fotografen umschlossen, von einem dichten, undurchdringbaren Wall aus stoßenden, schiebenden Menschenkörpern, jegliche Sicht war uns genommen. Und mit: das ist ja wohl die größte Frechheit! sprang Nikolas blitzschnell, ein dem Gefecht entgegenstürmender Schwertkämpfer beim Angriff aus dem Hinterhalt, taub gegenüber den Pfiffen des in der Nähe postierten Ordnungshüters, blind gegen sein Eingreifen, seinen sich ausstreckenden Händen entwischte er aalglatt, war nicht aufzuhalten in seiner Schubkraft nach vorn über das Absperrseil, verschwand in der karussellgleich umhergetriebenen Menge, deren Dreh und Angelpunkt das immer noch in Bewegung gehaltene Mikoshi war.

Einen Augenblick lang war ich wie gelähmt. Noch heute sehe ich den um seine Autorität gebrachten Polizisten vor mir, sein Gesicht erstarrt in Sprachlosigkeit; aber auch Nikolas Gesicht, blass bis in die Lippen, bis in die Nasenspitze hinein vor Empörung, sehe ich, höre, als sei er gerade erst ausgestoßen, den Kampfruf, mit heller, scharfer Stimme: jetzt komm ich! bleibt mir vom Leib! und fühle mich, genau wie an jenem Abend, mitgerissen. Denn das war das Denkwürdige an diesem "Zwischenfall", der Sog, der von ihm ausging. Als hätte Nikolas einen Startbefehl gegeben, durchbrachen jetzt auch andere Festteilnehmer, die Kameras mit ihren an Zielfernrohre erinnernden Objektiven im Laufen von sich gestreckt, die Absperrung, unbehelligt übrigens von den Polizisten. Ich weiß nicht, ob sie kapituliert hatten vor der Übermacht der Festtagsbesucher, oder ob die Freigabe der Straße am Ende doch vorgesehen war. Natürlich befand auch ich mich unter den Zuschauern, und rief, trotz der Geräuschkulisse um mich herum wieder und wieder Nikolas' Namen. Unters Fußvolk geraten sah ich ihn, geknufft, zu Boden gestoßen: Mach dich nicht lächerlich! Er verträgt mehr als du glaubst! Schließlich ist er kein Kind mehr! (Kein Kind? Kein Jugendlicher? Was ist er denn eigentlich? Ein Wechselbalg? In unvorhersehbarer Situationsänderung immer die Person, die gerade ins Bild passt? Haarspaltereien - Schluss damit. Es wird nichts passieren, darf nichts passieren, die Beschwörungsformel mitgedacht!). Schon begann ich mich, so trickreich ermutigt, mit der Rolle der Wartenden wider Willen abzufinden, war im Begriff beiseite zu treten, heraus aus dem Umkreis des Menschenknäuels, an dessen äußerstem Rand ich stand - da wurde ich, die Träger mussten das Mikoshi noch einmal, bevor es unter den Megaphonrufen des Platzanweisers zur Reinigungszeremonie niedergesetzt werden sollte, mit aller Macht um seine eigene Achse gezerrt haben, von der herumwirbelnden Menge erfasst und fortgerissen, und gleich darauf durch einen Stoß in den Rücken unaufhaltsam hineingeschleudert ins Zentrum des Geschehens, in Priesternähe, gerade in dem Augenblick, als in rascher Aufeinanderfolge die Scheinwerfer der Kamerateams aufleuchteten, Tausende Watt Blendlichter in mein Gesicht, nicht einmal mehr in Umrissen konnte ich meine Umgebung wahrnehmen. Aber noch bevor ich mir die Hand vor Augen halten oder gar losschimpfen konnte - es wäre selbstverständlich nicht angemessen gewesen - ergriff mich erneut eine Welle gewaltsamer Rundum-Bewegung, die Letztwelle des Mikoshigerüttels, und außerstande mich zu wehren (um Himmels willen, wie würde es Nikolas ergehen?), fand ich mich wiederum ins Abseits gedrängt, erneut auf verdecktem Posten, der Blick auf das lang herbeigewartete Zeremonialgeschehen blieb mir verstellt.

Bis heute weiß ich nicht, in welcher Form die Wasserbesprengung stattgefunden hat, denn nur durch ständig wechselnde Sichtspalten hindurch konnte ich die Zipfel der Priestergewänder um die Sänfte flattern sehen. Nach den ersten feierlichen Minuten, ehrfürchtig hatte das Publikum Stillschweigen und Stillehalten bewahrt, begann eine Aktion, die ich die Kindersegnung nannte. In plötzlicher Betriebsamkeit, meine Nachbarin machte mich darauf aufmerksam, wurden Kleinkinder auf das Tragegestell des Mikoshi gesetzt, zur Berührung und - zum Erinnerungsfoto. Und diese Glück und Segen bringende Aktion wollte kein Ende nehmen. Von allen Seiten her wurden Kinder - zwischen ein und drei Jahren, entzückend in entzückenden Festkimonos - durch die Reihen nach vorn und wieder zurückgereicht. Durch das ständige Hin-und Hergewoge, riss die zuvor so festgefügte Mauer aus Körpern und Gliedmaßen zum Guckloch auf, und so sah auch ich sie im "spotlight" auf dem Gestänge sitzen: Pausbackenkinder, so anrührend, dass jedem Kinderfreund Herz und Lippen überfließen mussten vor Zustimmung oder Mitgefühl, immer wieder wurde Beifall geklatscht, ganz gleich wie die Kinder reagierten, vergnügt oder ängstlich. Die meisten von ihnen waren eher befremdet, verzogen die Mundwinkel zum Weinen, den Atem bereits tief und rasch aus der Brust herausgestoßen, einige schrien nach ihrer Mutter, die Körper weit vorgebeugt, die Hände im Zurückwollen ausgestreckt. Aber auch lachende Kinder gab es, das eine oder andere selbstbewusste Zweijährige, wie es posierte, stolz und routiniert vor der Kamera. Und dann - endlich - sah ich hinter den Kindern das Mikoshi auftauchen. Der Flutkegel der Filmleuchten hatte es im Strahl gebündelt erfasst und in überraschender Scharfeinstellung dem Dämmerlicht der Straßenbeleuchtung entrissen, mit einem Schlag. Wie vom Goldglanz übergossen stand es da, zierlich, ein transportabler Schrein in chinesischem Pavillonstil. Auf der rundumführenden schmalen Veranda markierte ein Tori den Einstieg, die Fenster waren, den geweihten Innenraum vor verunreinigenden Blicken zu schützen, mit weißen Tüchern zugehängt. Schöner wohlgelungener Schein! Nur auf den ersten Blick wirkte die Sänfte so grazil. In Wirklichkeit handelte es sich um ein eher kompaktes Gebilde, dem das derbe Schüttelritual nicht viel anhaben konnte und das dennoch eine Augenweide war. - Heute, von Nikolas immer wieder getadelt, frage ich mich, warum ich nicht fotografiert habe. Ein besserer Blick auf die von Kindern gesäumte Sänfte hätte mir gar nicht geboten werden können. Aber ich hatte plötzlich genug, wünschte mir nur noch eines: Weg von hier! Fort aus dem Brutkasten, Schwitzkasten! Keine Sekunde länger wollte ich hier stehen müssen, Körper an Körper gepresst, Haut an Haut - glitschige Fremdenhaut, kalt und tropfend von Schweiß. Natürlich blieb dieser Wunsch vergeblich. Es gab für mich, es gab für uns alle, die wir hier so eingebunden in die Menge standen, eine jeder auf die Gunst, auf das Stillehalten des anderen angewiesen, kein Vor und Zurück.

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